Bewohner von Charkiw
reportage

Widerstand in Charkiw Kochen gegen den Krieg

Stand: 14.05.2024 15:35 Uhr

Raketenbeschuss, russischer Vormarsch, die Front nur rund 20 km entfernt - die Menschen in Charkiw geben dennoch nicht auf. Mitten im Krieg hat ein junger Koch trotzdem ein Restaurant eröffnet.

Von Rebecca Barth, ARD Kiew

Mykyta Wirtschenko versucht, so gut es geht, Normalität zu bewahren. Von früh bis spät steht der junge Koch in seinem Restaurant "Trypitschtschja" in Charkiw - der zweitgrößten Stadt der Ukraine. Wegen der massiven russischen Luftangriffe gibt es keine eigenständige Wärme- und Energieversorgung mehr. Immer wieder fällt der Strom aus. Wirtschenko und sein Team aber kochen trotzdem.

"Uns war von Anfang an klar, wie das Leben in Charkiw sein würde, und wir bereiten uns jetzt darauf vor", sagt Wirtschenko. "Es ist nicht einfach. Zu 100 Prozent ist es nicht einfach. Ohne Strom zu arbeiten ist ein Horror. Aber im Moment sind wir völlig autonom, und wir können ein oder zwei Tage ohne Licht arbeiten, ganz sicher. Und kochen trotzdem zwölf Menüseiten, nicht nur drei oder vier, sondern zwölf."

Holzöfen machen das möglich. Und das Restaurant ist stets gut gefüllt. Typisch ukrainische Speisen bieten sie hier an - modern interpretiert und mit Zutaten aus ökologischem Anbau.

Ablenkung vom Krieg

Tetiana Tschaika ist an diesem Tag bewusst gekommen, um sich und ihre Kinder abzulenken vom Krieg. Vom ständigen Luftalarm, von den ständigen Raketeneinschlägen - die wegen der Nähe zur russischen Grenze oft ohne Vorwarnung kommen.

"Es tut mir weh, und ich habe natürlich Angst", sagt sie. "Um mich selbst und um die Kinder. Ich möchte den Kindern eine gute Zukunft bieten, damit sie das alles nicht mitbekommen. Deshalb versuchen wir so viel wie möglich, eine Atmosphäre der Ruhe und Gemütlichkeit zu schaffen."

Front nur 20 Kilometer von Charkiw entfernt

Am Freitag haben die russischen Truppen eine Offensive in der Region Charkiw gestartet, sind erneut aus dem Nordosten in die Ukraine eingedrungen. Die Front ist von Charkiw-Stadt nur etwa 20 Kilometer entfernt. Sollten die russischen Truppen weiter vorrücken, dann könnte die Millionenstadt wieder in die Reichweite vieler russischer Artilleriegeschütze gelangen, wie schon zu Beginn des Angriffskrieges.

Bürgermeister Ihor Terechow gibt sich kämpferisch: "Seit Beginn des Krieges werden wir beschossen, so viel - wir konnten die Angriffe am Anfang gar nicht zählen. Das ging über Wochen, Tage und Stunden. Es war unmöglich, die Explosionen alle zu zählen. Dann wurde es etwas ruhiger und jetzt, seit Jahreswechsel, nimmt der Beschuss wieder zu. Wir werden auch das aushalten."

Charkiw ist trotz der vielen Angriffe eine pulsierende Stadt. Viele Fensterscheiben und Gebäude sind zerstört. Und doch genießen die Menschen das Leben, sitzen in Cafés und Restaurants. Sie haben sich bewusst zum Bleiben entschieden.

Kultur fördern und Armee unterstützen

Für Koch Wirtschenko ist das auch eine Form des friedlichen Widerstands gegen die russische Aggression: "Ich liebe meine Stadt sehr. Für mich persönlich ist Charkiw meine Heimat, meine Komfortzone. Ich habe hier mein soziales Umfeld und fühle mich hier einfach sehr wohl, weil ich fast alle Probleme über meine Bekannten lösen kann, wie die meisten Menschen auch. Deswegen wollen viele ihre Heimat nicht verlassen. Weil es ihre Komfortzone ist."

Er lebe nun bewusster, sagt Wirtschenko. Er will mit seinen Gerichten nicht nur die ukrainische Kultur fördern, sondern auch die Armee unterstützen. Ursprünglich war das "Trypitschtschja" eine Küche für Soldaten. Heute sei das Restaurant seine Seele und sein Herz, sagt Wirtschenko. Daran könnten auch die ständigen russischen Angriffe nichts ändern.

"Wir haben gelernt, unsere Angst zu überwinden"

Sein Gast Tschaika sagt: "Aktuell ist es für jeden sehr wichtig, bewusst hierher zu kommen und in die Atmosphäre der ukrainischen Kultur und der ukrainischen Gerichte einzutauchen. Es ist eine ruhige Atmosphäre, was für uns jetzt sehr wichtig ist. Natürlich hatten wir am Anfang Angst und haben die Stadt verlassen. Aber wir haben gelernt, unsere Angst zu überwinden.

Wir sind auf eigene Gefahr zurückgekommen, um zusammen zu sein, mit meinem Mann und um bei der Familie zu sein. Für uns alle ist das sehr wichtig. Hier zu sein, zu unterstützen mit dem, was man kann. Jeder trägt zu dieser Stadt bei. Man arbeitet, zahlt Steuern, hilft alten Menschen, Kindern und Tieren. Das ist sehr wichtig."

Rebecca Barth, ARD Kiew, tagesschau, 14.05.2024 14:32 Uhr

Dieses Thema im Programm: Über dieses Thema berichtete Inforadio am 14. Mai 2024 um 06:32 Uhr.